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"Куда идет мир? Каково будущее науки? Как "объять необъятное", получая образование - высшее, среднее, начальное? Как преодолеть "пропасть двух культур" - естественнонаучной и гуманитарной? Как создать и вырастить научную школу? Какова структура нашего познания? Как управлять риском? Можно ли с единой точки зрения взглянуть на проблемы математики и экономики, физики и психологии, компьютерных наук и географии, техники и философии?"

«Herausforderungen von Komplexitдt im 21. Jahrhundert: Dynamik und Selbstorganisation im Zeitalter der Globalisierung» 
Prof. Dr. Klaus Mainzer

Lehrstuhl fur Philosophie und Wissenschaftstheorie
Institut fur Interdisziplinare Informatik
Universitat Augsburg

Abstract: Im Zeitalter der Globalisierung werden die Lebensbedingungen der Menschen immer komplexer und unubersichtlicher. Taglich erleben wir die labilen Gleichgewichte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Einige Lander furchten den Verlust gewohnter Besitzstande und den Absturz ins Chaos. Andere sehen die Chancen kreativer Innovation und den Aufbruch zu neuen Markten. Chaos, Ordnung und Selbstorganisation entstehen nach den Gesetzen komplexer dynamischer Systeme — in der Natur und der Gesellschaft. Komplexe dynamische Systeme werden bereits erfolgreich in Technik- und Naturwissenschaft untersucht — von atomaren und molekularen Systemen in Physik und Chemie uber zellulare Organismen und okologische Systeme der Biologie bis zu neuronalen Netzen der Gehirnforschung und den Computernetzen im Internet. Mittlerweile werden auch Anwendungen in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften diskutiert. Was konnen wir aus Chaos, der Entstehung von Ordnung und Selbstorganisation in der Natur lernen? Welche Konsequenzen lassen sich fur das Komplexitatsmanagement in Unternehmen, Firmen, und Verwaltungen ziehen? Welche Perspektiven ergeben sich fur Lander und Kontinente wie Ru?land und das neue Europa?

Gliederung:

1. Von der linearen zur nichtlinearen Dynamik

2. Selbstorganisation und Dynamik in der Natur

3. Selbstorganisation und Dynamik in Medizin und Gehirnforschung

4. Selbstorganisation und Dynamik in Computer-, Informations- und Kommunikationssystemen

5. Selbstorganisation und Dynamik in Wirtschaft und Gesellschaft

6. Selbstorganisation und Dynamik im Management von Unternehmen und Verwaltungen

7. Selbstorganisation und Dynamik im Zeitalter der Globalisierung:
Ru?land und das neue Europa

8. Was lernen wir aus der nichtlinearen Dynamik komplexer Systeme?

1. Von der linearen zur nichtlinearen Dynamik

Nach I. Newton (1643-1727) sind alle physikalischen Wirkungen durch Krafte als ihren Ursachen eindeutig determiniert. Ziel der Naturforschung (�philosophia naturalis’) ist es, diese Krafte durch mathematische Gesetze (�principia mathematica’) zu bestimmen, um damit alle beobachtbaren, vergangenen und zukunftigen physikalischen Ereignisse erklaren und berechnen zu konnen. 100 Jahre spater wird daraus bei P.-S. de Laplace (1747-1827) der Glaube an eine omnipotente Berechenbarkeit der Natur, wenn im Idealfall (�Laplacescher Geist’) alle Kraftgesetze und Anfangsbedingungen bekannt waren.

Diese Annahme gilt sicher fur lineare dynamische Systeme wie einen harmonischen Oszillator. Bei einer Masse, die an einer Feder befestigt ist, fuhrt eine kleine Auslenkung zu einer kleinen Schwingung, wahrend eine gro?e Auslenkung eine gro?e Schwingung als Wirkung verursacht. Ursachen und Wirkungen sind in diesem Fall ahnlich. Mathematisch erhalten wir dann eine lineare Gleichung. Eine Losung dieser Bewegungsgleichung lasst sich als Zeitreihe des Orts in Abhangigkeit von der Zeit darstellen. Dieser regularen Schwingung entlang der Zeitachse entspricht eine geschlossene Bahn (,Trajektorie’) im Phasenraum, in dem alle Zustande des dynamischen Systems als Punkte dargestellt sind. Im Phasenraum erkennen wir also die Dynamik eines linearen Oszillators vollstandig, wie der Laplacesche Geist. Eine Kausalitatsanalyse ist in diesem Fall nicht nur vollstandig durchfuhrbar, sondern auch berechenbar.

Aus der Mathematik wissen wir: Lineare Gleichungen sind leicht zu losen. Nichtlineare Gleichungen erlauben aber nicht immer beliebig genaue Berechenbarkeit, selbst mit unsern besten Computern. Ein Beispiel sind die Mehrkorperprobleme der Himmelsmechanik, bei denen mehr als zwei Himmelskorper gravitativ aufeinander einwirken. H. Poincare (1892) zeigt erstmals, dass bei einem nichtlinearen Mehrkorperproblem chaotisch instabile Bahnen auftreten konnen, die empfindlich von ihren Anfangswerten abhangen und langfristig nicht vorausberechenbar sind. Schlie?lich bewiesen A. N. Kolmogorov (1954), V. I. Arnold (1963) und J. K. Moser (1962) ihr beruhmtes KAM-Theorem: Trajektorien im Phasenraum der klassischen Mechanik sind weder vollstandig regular noch vollstandig irregular, sondern hangen empfindlich von den gewahlten Anfangsbedingungen ab. Winzige Abweichungen von den Anfangsdaten fuhren zu vollig verschiedenen Entwicklungstrajektorien (,Schmetterlingseffekt’). Daher konnen die zukunftigen Entwicklungen in einem chaotischen (Hamiltonschen) System langfristig nicht vorausberechnet werden, obwohl sie mathematisch wohl definiert und determiniert sind.

Ein anderer Weg zu dieser Komplexitat wurde ebenfalls im 19. Jahrhundert gelegt. P. F. Verhulst untersuchte 1845 eine nichtlineare Differenzengleichung, um das Wachstum von Populationen in nachfolgenden Generation in Abhangigkeit von einem Wachstumsparameter zu berechnen. Die Zeitreihen der Verhulst-Dynamik zeigen fur schwaches Wachstum eine S-formige Kurve mit der Sattigung in einer Gleichgewichtspunkt, fur starkeres Wachstum eine Oszillation zwischen zwei Populationsgro?en und bei starkem Wachstum vollig irregulare chaotische Schwankungen. Im Zustandsraum sieht man anschaulich, wie die Dynamik der Trajektorie im 1. Fall auf einen Fixpunktattraktor zielt und im 2. Fall zwischen zwei Zustanden schwankt. Im 3. Fall fuhren selbst eng benachbarte Anfangswerte nach wenigen Iterationsschritten zu irregular auseinanderlaufenden Trajektorien. Im Computermodell fuhren dann geringste Veranderungen von digitalisierten Anfangsdaten zu einer exponentiell wachsenden Rechenzeit zukunftiger Daten, die Langzeitprognosen praktisch ausschlie?t. Man beachte: Dieses nichtlineare Wachstumsgesetz ist mathematisch vollstandig determiniert. Es geht also um Grenzen der praktischen Berechenbarkeit von Wirkungen aus Ursachen bei nichtlinearer Dynamik.

2. Selbstorganisation und Dynamik in der Natur

Nichtlineare Dynamik fuhrt jedoch nicht nur zu Chaos, sondern ermoglicht auch Selbstorganisation von Ordnung in komplexen Systemen. Dabei kommt es zu charakteristischen Ruckkopplungen von Systemelementen, bei denen Wirkungen von Ursachen selber wieder zu Ursachen werden, um ihre Ursachen zu beeinflussen. So entstehen makroskopische Strukturen, die nicht durch die Systemelemente vorgegeben sind, aber durch ihre Wechselwirkung bei geeigneten Anfangs- und Nebenbedingungen (d.h. Einstellung von Kontrollparametern) moglich werden. Man spricht dann auch von Emergenz von Ordnung. Beispiel: In Gasen wirken gesto?ene Molekule ihrerseits wieder auf die sie sto?enden Molekule ein und erzeugen bei veranderter Temperatur unterschiedliche Aggregatzustande. In der Chemie reproduzieren autokatalytische Stoffe sich selber und erzeugen bei geeignetem Stoff- und Energieaustausch (Metabolismus) organische Lebensfunktionen. Die Zirkelkausalitat dieser vielfaltigen Wechselwirkungen wird mathematisch durch gekoppelte nichtlineare Gleichungen der einzelnen Systemelemente ausgedruckt.

Allgemein besteht ein komplexes dynamisches System aus einer gro?en Anzahl von Elementen. Die mikroskopischen Zustande der Elemente bestimmen den makroskopischen Zustand des Systems. So ist in einem Planetensystem der Zustand eines Planeten zum einem Zeitpunkt durch seinen Ort und seine Geschwindigkeit bestimmt. Es kann sich aber auch um den Bewegungszustand eines Molekuls in einem Gas, den Erregungszustand einer Nervenzelle in einem neuronalen Netz oder den Zustand einer Population in einem okologischen System handeln. Die Dynamik des Systems, d.h. die Anderung der Systemzustande in der Zeit, wird durch Differentialgleichungen beschrieben, wobei jeder zukunftige Zustand durch den Gegenwartszustand eindeutig bestimmt ist. Statt kontinuierlicher Prozesse lassen sich auch diskrete Prozesse als Anderung der Systemzustande in Zeitschritte durch Differenzengleichungen untersuchen. Die gleichzeitige Wechselwirkung vieler Elemente wird durch nichtlineare Funktionen erfasst. Zufallsereignisse (z.B. Brownsche Bewegung) werden durch zusatzliche Fluktuationsterme berucksichtigt. Bei stochastischen Prozessen geht es um die zeitliche Veranderung von Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktionen von Zustanden, die z.B. durch eine Mastergleichung beschrieben werden.

Die Thermodynamik untersucht komplexe Systeme (z.B. Flussigkeiten, Gase) aus vielen Elementen (z.B. Atome, Molekule) mit vielen Freiheitsgraden der Bewegung. Makroskopische Zustande des Systems (z.B. Warme) werden auf mikroskopische Wechselwirkungen der Elemente zuruckgefuhrt und nach den Gesetzen der statistischen Mechanik erklart. Die Thermodynamik bietet viele Beispiele von komplexen Systemen, deren Elemente sich unter geeigneten Nebenbedingungen zu neuen Ordnungen selbststandig zusammenfugen. Ein alltagliches Beispiel ist ein Regentropfen auf einem Blatt mit seiner perfekten glatten Oberflache. Die Wassermolekule am Rand des Tropfens befinden sich in einem hoheren Energiezustand als im Innern. Da das System nach den Gesetzen der Thermodynamik einen Zustand niedrigster Gesamtenergie einnehmen muss, minimiert der Tropfen die Ausdehnung seiner energiereichen Oberflache und bildet so seine makroskopische Form. Bekannt sind auch die Eisblumen, zu denen sich Wassermolekule in der Nahe des thermischen Gleichgewichts zusammenfugen.

Ein Ferromagnet lasst sich als ein komplexes System aus vielen kleinen Dipolen (,Spins’) auffassen, die in zwei Richtungen �up’ ( ) oder �down’ ( ) zeigen konnen. Der Ordnungsparameter des Systems ist durch die Durchschnittsverteilung der Spinrichtungen bestimmt. Im Zustand niedrigster Energie zeigen die Spins alle in dieselbe Richtung. In diesem Fall ist das System magnetisiert. Bei sehr hoher Temperatur (jenseits des Curie-Punktes) ist die Verteilung der Spinrichtung zufallig und irregular. In diesem Fall ist die thermische Energie als Ursache von Fluktuationen gro?er als die Energie der Wechselwirkungen. Wird die Temperatur als Kontrollparameter des Systems gesenkt, dann strebt das System einem Gleichgewichtszustand kleinster Energie am Curie-Punkt zu, in dem die Dipole das regulare Ordnungsmuster der gleich ausgerichteten Dipole bilden.

Isolierte Systeme ohne Stoff- und Energieaustausch mit ihrer Umwelt streben nach dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik von selbst in den Gleichgewichtszustand maximaler Entropie (z.B. strukturlose, irregulare Verteilung der Gasmolekule in einem isolierten Behalter). Abgeschlossene (,konservative’) Systeme ohne Stoff-, aber mit Energieaustausch mit ihrer Umwelt hangen von einem Kontrollparameter (z.B. die Temperatur bei einem Ferromagneten) ab. In der Nahe des thermischen Gleichgewichts fugen sich die Systemelemente bei Absenkung auf einen kritischen Wert von selbst zu Ordnungs- bzw. Aggregatszustanden niedriger Entropie und Energie zusammen. Diese Phasenubergange lassen sich nach L. D. Landau durch Ordnungsparameter charakterisieren wie die Verteilung von Dipolzustanden bei Ferromagneten. Phasenubergange von abgeschlossenen Systemen in der Nahe des thermischen Gleichgewichts werden auch als konservative Selbstorganisation bezeichnet.

Dieses Prinzip der Selbstorganisation, wonach sich Atome, Molekule und Molekulverbande selbststandig zu wohlgeordneten und funktionierenden Einheiten zusammenfugen, findet bereits technische Anwendung in der Materialforschung. Bei der Fertigung von Halbleiter-Kristallen wird davon ausgegangen, dass sich Silicium- und Dotier-Atome von selbst in der gewunschten Weise anordnen. Durch Selbstorganisation bilden sich z.B. winzige Graphitrohren von einigen millionstel Millimeter Durchmesser (Nanorohren), die zu den kleinsten jemals hergestellten elektrischen Drahten gehoren. Im Computerbau werden mit zunehmender Miniaturisierung Chips notwendig, deren winzige Bauteile durch keine Maschine zusammengesetzt werden konnen. Sie mussten sich selber nach den Gesetzen der Selbstorganisation zu gro?eren Funktionseinheiten zusammenlagern. Wie wir spater sehen werden, gelten die Gesetze konservativer Selbstorganisation formal haufig auch, wenn die physikalischen Gro?en durch chemische, biologische, medizinische oder technische Gro?en ersetzt werden.

Fern des thermischen Gleichgewichts hangen Phasenubergange von hochgradig nichtlinearen und dissipativen Mechanismen ab. Makroskopische Ordnungsstrukturen entstehen durch komplexe nichtlineare Wechselwirkungen mikroskopischer Elemente, wenn der Stoff- und Energieaustausch des offenen (dissipativen) Systems mit seiner Umwelt kritische Werte erreicht. In diesem Fall wird die Stabilitat der Ordnungsstrukturen durch eine gewisse Balance von Nichtlinearitat und Dissipation garantiert. Zu starke nichtlineare Wechselwirkung oder Dissipation wurde die Ordnung zerstoren. Emergenz von Ordnung ist also nichts Mystisches, sondern la?t sich mathematisch prazise durch nichtlineare Dynamik erklaren: Das «Ganze» der neuen Ordnung ist eben «mehr» als die Summe ihrer «Teile» bzw. Systemelemente. Bei linearer Dynamik ware der makroskopische Zustand nur die Summe seiner Teile.

Ein bekanntes Beispiel ist das Benard-Experiment, wobei eine Flussigkeitsschicht von unten im Gravitationsfeld erwarmt wird. Bei geringer Temperaturdifferenz mit der Oberflache wird die Warme durch Warmeleitung transportiert, die viskosen Krafte gewinnen und die Flussigkeit bleibt in Ruhe. Erreicht der Kontrollparameter der Temperaturdifferenz einen kritischen Wert, beginnt eine makroskopische Rollbewegung der Flussigkeit. Dieses geordnete dynamische Muster von Konvektionsrollen wird also durch au?ere Energiezufuhr jenseits des thermischen Gleichgewichts aufrechterhalten. Es kommt zu einer raumlichen Symmetriebrechung der beiden moglichen Rollrichtungen, die sich aufgrund geringster Anfangsfluktuationen aufbauen und daher nicht vorausgesagt werden konnen. Anschaulich lasst sich ein Bifurkationsschema angeben, in dem der thermodynamische Zweig minimaler Entropieerzeugung instabil wird und zwei mogliche stationare (lokale) Ordnungsmuster auftreten konnen — die links- oder rechtsdrehenden Konvektionsrollen. ‘I’reibt man die Erwarmung noch weiter und damit das System immer weiter fort vom thermischen Gleichgewicht, entstehen zunachst quasi-oszillierende Wirbel und schlie?lich vollig irregulare und chaotische Stromungen. Die nichtlinearen Gleichungen des Benard-Experiments wurden von E. N. Lorenz (1964) auch verwendet, um die Dynamik des Wetters und der Atmosphare zu modellieren.

Allgemein verstehen wir unter offenen (,dissipativen’) Systemen solche komplexen Systeme, die im Stoff- und Energieaustausch mit ihrer Umwelt sind. Selbstorganisation und Emergenz von Ordnung lasst sich in mathematischer Analyse auf eine nichtlineare Zirkelkausalitat der Systemelemente zuruckfuhren. Das Standardverfahren dazu ist eine lineare Stabilitatsanalyse. Man untersucht das Verhalten des Systems in der Nahe eines Instabilitatspunktes. Nach Anderung eines stationaren Zustands lasst sich das Verhalten der einzelnen Systemelemente unterscheiden. Bei einer kleinen Anderung weisen die meisten Moden der Systemelemente nur geringe Abweichungen auf. Einige Moden potenzieren sich allerdings zu gro?en Amplituden auf, die auf das Gesamtverhalten der Systemelemente zuruckwirken. Sie werden daher als Ordnungsparameter bezeichnet, die neue makroskopische Strukturen, Muster oder Trends erzeugen. Anschaulich gesprochen brechen alte Ordnungen in der Nahe von Instabilitatspunkten zusammen, und neue Ordnungen organisieren sich aufgrund der beschriebenen Zirkelkausalitat zwischen Systemelementen und Ordnungsparametern selber.

Bei weiterer Veranderung des Kontrollparameters kann die Dynamik eines offenen Systems immer neue lokale Gleichgewichtszustande einnehmen, die wieder instabil werden. Man denke etwa an die verschiedenen Oberflachenmuster, die ein Fluss hinter einem Bruckenpfeiler in Abhangigkeit von der steigenden Flussgeschwindigkeit als Kontrollparameter bilden kann. Sie reichen von einem homogenen (Fixpunkt-) Zustand uber oszillierende und quasi-oszillierende Wirbel bis zur chaotischen Strudelbildung. Man spricht auch von den Attraktoren eines dissipativen Systems, das vom thermodynamischen Gleichgewicht immer weiter fortgetrieben wird. Die entsprechenden Phasenubergange werden als dissipative Selbstorganisation bezeichnet.

Die Beschreibung der makroskopischen Dynamik durch Ordnungsparameter bedeutet eine erhebliche Reduktion von Komplexitat gegenuber der Mikroebene. Die Anzahl der Ordnungsparameter ist namlich wesentlich kleiner als die Anzahl der Mikrozustande (z.B. einzelner Molekule), die den Gesamtzustand eines komplexen Systems auf der Mikroebene bestimmen. In seinem Konzept der Synergetik spricht Haken (1983) anschaulich von einer ,Versklavung’ der Mikrozustande durch die Ordnungsparameter in der Nahe von Instabilitatspunkten. Dabei unterscheidet sich die Zeitskalierung auf der Makro- und Mikroebene insofern, als Ordnungsparameter nach Storungen langsamer relaxieren als die sich rasch verandernden Mikrozustande.

In der Chemie kann wie in der Physik die Entstehung von Ordnung in komplexen Systemen in der Nahe und fern des thermischen Gleichgewichts unterschieden werden. In der Nahe des thermischen Gleichgewichts geht es z.B. um die Entstehung von Kristallen und Festkorpern. Molekulare Bausteine konnen sich nahe dem Gleichgewicht nach chemischen Schablonen zu Riesenmolekulen gruppieren (z.B. Polyoxometallate, Fullerene, Dendrimere). In der supramolekularen Chemie werden bereits molekulare Selbstorganisationsprozesse in der Nahe des thermischen Gleichgewichts ausgenutzt, um hochkomplexe Molekulaggregate im Nanobereich zu erzeugen. Dabei werden kugelformige geschlossene Strukturen ebenso gebildet wie Gitter-, Leiter- und Spiralstrukturen, die der Erbsubstanz DNA ahneln. Manche dieser Gebilde sind in ihrer Gro?e mit Proteinen und anderen biologischen Makromolekulen vergleichbar. Wegen ihrer optischen, elektrischen, magnetischen oder supraleitenden Effekte werden diese Riesenmolekule gezielt fur die Materialforschung und Pharmazie untersucht. Diese Effekte entsprechen makroskopischen Ordnungszustanden des Gesamtsystems analog zur Magnetisierung eines Ferromagneten, die aus den einzelnen Bausteinen des komplexen Systems nicht ableitbar sind. Das Ganze ist nicht die Summe seiner Teile. Mathematisch handelt es sich um nichtlineare Systeme, deren Wirkungen nicht nur die lineare Summe der Einzelwirkungen ihrer Systemelemente sind.

In offenen (dissipativen) chemischen Systemen konnen Phasenubergange wie in der Physik zu immer komplexeren makroskopischen Mustern stattfinden, die durch nichtlineare chemische Reaktionen in Abhangigkeit von einer au?eren Zu- und Abfuhr von Stoffen (,Kontrollparameter’) ausgelost werden. So treten bei der Belousov-Zhabotinski (,BZ’)-Reaktion konzentrisch pulsierende Ringe auf, wenn von au?en energiereiche Substanzen bis zu einem kritischen Kontrollwert zugefuhrt werden. Es handelt sich um ein dissipatives dynamisches Ordnungsmuster eines offenen Systems, das bei einem kritischen Kontrollwert von au?en aufrechterhalten werden muss. Der Wettbewerb der isolierten Ringe veranschaulicht die Nichtlinearitat dieses Prozesses, da bei Linearitat die Wellen sich wie in der Optik uberlagern (,superponieren’) wurden. Auch in diesem Fall kann das System durch Zufuhr von Energie immer weiter vom thermischen Gleichgewicht fortgetrieben werden, bis schlie?lich vollig irregulare und chaotische Muster auftreten.

Die Komplexitat chemischer Reaktionen fern des thermischen Gleichgewichts lasst sich durch Bifurkationsdiagramme veranschaulichen. In einem kritischen Abstand vom Gleichgewichtspunkt wird der thermodynamische Zweig der minimalen Energieproduktion (lineare Thermodynamik) instabil und verzweigt sich zu neuen moglichen lokal stabilen Zustanden (Symmetriebrechung). Damit beginnt die nichtlineare Thermodynamik des Nichtgleichgewichts wie z.B. der Grenzzyklus einer chemischen Oszillation. Treibt man die nichtlinearen Reaktionen immer weiter vom Gleichgewichtszustand, entsteht ein zunehmend komplexeres Verzweigungsschema mit neuen moglichen lokalen Gleichgewichtszustanden bis hin zum Chaos. Diese lokalen Gleichgewichtszustande sind mit der «Emergenz» von neuen Phanomenen (z.B. Stromungsmustern, Attraktoren) verbunden. Tatsachlich handelt es sich mathematisch um nichts anderes als das Auftreten neuer Losungen nichtlinearer Differentialgleichungen, wenn die Kontrollparameter entsprechende kritische Werte einnehmen.

Offene physikalische und chemische Systeme zeigen also Eigenschaften, die wir auch lebenden Systemen zuschreiben. Es findet ein Stoff- und Energieaustausch (�Metabolismus’) mit der Umwelt statt, der das System von Tod und Erstarrung im thermischen Gleichgewicht fern und die Ordnung des Systems aufrecht erhalt. Die Ordnungen entstehen durch ,Selektion’ und ,Kooperation’ der Systemteile bei geeigneten Bedingungen. Geringste Fluktuationen (,Mutationen’) konnen zu globalen Veranderungen des Gesamtsystems fuhren. Im Unterschied zu den Mustern dissipativer Systeme in Physik und Chemie brechen aber z.B. lebende Zellen und Organismen nicht spontan zusammen, wenn die Stoff- und Energiezufuhr kurzfristig unterbrochen wird. Konservative Strukturen in (teilweise) abgeschlossenen Systemen sind also fur die Lebenserhaltung ebenfalls unerlasslich. Fur die Emergenz von Lebensprozessen ist also keine besondere Kausalitat notwendig, wie in der Tradition immer angenommen wurde. Zu dieser Annahme werden wir nur genotigt, wenn wir Kausalitat linear wie die traditionelle Mechanik des 17. und 18. Jahrhunderts verstehen.

Fur die Erklarung von Lebensentstehung und Lebenserhaltung reichen die Gesetze der Thermodynamik allerdings nicht aus. Bei der zellularen Selbstorganisation sind die Anweisungen fur den Aufbau des Systems in den Bausteinen selbst (d.h. der molekularen DNS-Struktur der Zelle) verschlusselt. Man spricht daher auch von einer genetisch kodierten Selbstorganisation der biologischen Evolution im Unterschied zur thermodynamischen Selbstorganisation. In der prabiotischen Evolution geht es um die spannende Frage, wie die thermodynamische Selbstorganisation physikalischer und chemischer Systeme nahe und fern des thermischen Gleichgewichts schlie?lich den Weg zur kodierten Selbstorganisation der biologischen Evolution fand. Die thermodynamische Selbstorganisation liefert nur die physikalischen und chemischen Rahmenbedingungen fur die genetische Selbstreplikation von Nukleinsauren und Proteinsynthesen. Sie verwendet autokatalytische Prozesse, die im (vereinfachten deterministischen) Modell des Hyperzyklus nach M. Eigen (1971) durch nichtlineare Differentialgleichungen 1. Ordnung fur Konzentrationen chemischer Stoffe beschrieben werden. Das Schema des Hyperzyklus zeigt die wachsende Komplexitat vom Makromolekul zur integrierten Zellstruktur. In der Sprache der Tradition konnte man auch von der «Emergenz» neuer Phanomene sprechen, die auf hierarchischen Stufen der Evolution von der katalytischen Wechselwirkung einfacher Molekule uber die Autokatalyse von Makromolekulen (z.B. Proteine) bis zur komplexen Wechselwirkung in einer Zelle auftreten.

Typisch ist dabei wieder die Zirkelkausalitat. Vom Standpunkt komplexer Systeme ist die biologische Evolution der Arten durch eine ruckgekoppelte Dynamik von Genotyp, Phanotyp und Population bestimmt. Danach ware der Genotyp ein komplexes System von Genen auf der Mikroebene, aus dem sich auf der Makroebene der Phanotyp eines Organismus mit makroskopischen Eigenschaften wie z.B. Gestalt und Gro?e als genetischen Ordnungsparametern entwickelt. Populationen sind komplexe Systeme von Organismen, deren Selektion wieder auf den Genpool zuruckwirken kann. Viele der dabei wirkenden Mechanismen sind zwar heute noch unbekannt. Mathematische Modelle mit komplexen dynamischen Systemen konnten aber prazisierte Konzepte liefern, die in der empirischen biologischen Forschung uberpruft, weiterhelfen oder verworfen werden. Dabei handelt es sich wieder um nichtlineare Differentialgleichungen, mit denen die Dynamik auf den hierarchischen Stufen von Genotyp, Phanotyp und Population beschrieben werden. Ihren Losungen unter geeigneten Werten ihrer Kontrollparameter entsprechen der Emergenz der neuen Lebensphanomene, die auf diesen Stufen auftreten. Die Evolution neuer Arten wird also durch Phasenubergange des Nichtgleichgewichts modelliert. Mutationen entsprechen den �fluktuierenden Kraften’, Selektionen den ,treibenden Kraften’. Solche Gleichungen bestimmen Klassen von moglichen Bifurkationsbaumen als Evolutionsschemata mit Fluktuationen (,Mutationen’) in den Verzweigungen und treibenden Kraften in den Entwicklungsasten der Arten. Wie in anderen Modellen auch, lassen sich mogliche Evolutionsszenarien mit lokalen Gleichgewichten angeben.

Auch das okologische Zusammenleben von Populationen lasst sich mit komplexen dynamischen Systemen erfassen. Okologische Systeme sind namlich komplexe offene Systeme von Pflanzen oder Tieren, die in gegenseitigen (nichtlinearen) Kopplungen (Metabolismus) mit ihrer Umwelt fern des thermischen Gleichgewichts leben. So kann die Symbiose zweier Populationen mit ihrer Nahrungsquelle durch drei gekoppelte Differentialgleichungen modelliert werden, die bereits Lorenz in der Meteorologie verwendete. Bekannt sind die nichtlinearen Wechselwirkungen einer Raubtier- und einer Beutetierpopulation, die von den italienischen Mathematikern Lotka und Volterra mit zwei gekoppelten Differentialgleichungen beschrieben wurden. Die Dynamik dieser gekoppelten Systeme hat stationare Gleichgewichtspunkte. Ihre Attraktoren sind periodische Oszillationen bzw. Grenzzyklen. Bei dissipativen Systemen kann die nichtlineare Populationsdynamik immer weiter vom thermischen Gleichgewicht fortgetrieben werden, bis irregulare Turbulenz und Chaos auftreten. In der Sprache der Tradition handelt es sich dabei um Beispiele der Emergenz von Turbulenz und Chaos.

3. Selbstorganisation und Dynamik in Medizin und Gehirnforschung

Der menschliche Organismus ist ein komplexes zellulares System, in dem bestandig labile Gleichgewichte durch Stoffwechselreaktionen aufrecht erhalten werden mussen. Das Netzwerk der Stoffwechselreaktionen einer einzigen Leberzelle zeigt, wie ausbalanciert die lokalen Gleichgewichte sein mussen, um die globalen Lebensfunktionen zu garantieren. Die dabei auftretenden Ruckkopplungsschleifen von Zirkelkausalitaten entsprechen genau den gekoppelten nichtlinearen Gleichungen komplexer dynamischer Systeme.

Gesundheit als medizinischer Ordnungsparameter des Organismus beschreibt eine Balance zwischen Ordnung und Chaos. Starre Regulation wurde verhindern, auf Storungen flexibel zu reagieren. So funktioniert unser Herz nicht wie eine ideale Pendeluhr. Seine nichtlineare Dynamik ist ein gut untersuchtes Anwendungsgebiet komplexer Systeme in der Medizin. Dazu wird das Herz als ein komplexes zellulares Organ aufgefasst. Elektrische Wechselwirkungen der Zellen losen Aktionspotentiale aus, die zu oszillierenden Kontraktionen (Herzschlag) als makroskopischen Mustern (,Ordnungsparametern’) fuhren. Ein Elektrodiagramm ist eine Zeitreihe mit charakteristischen Mustern fur die Herzschlage. Um diese Dynamik zu studieren, mussen geeignete Kontrollparameter verandert werden. Dabei kann die Herzdynamik einen periodenverdoppelnden Kaskadenverlauf beginnen, der schlie?lich im Chaos als Zustand des Herzkammerflimmerns mundet. In der Sprache der Mathematik ware Herzkammerflimmern wieder ein Beispiel fur die Emergenz eines Makrozustands nichtlinearer Dynamik. Es gibt also unerwunschte und unkontrollierbare Emergenz. Sie la?t sich nur vermeiden, indem wir die kritischen Kontrollparameter, unter denen sie eintritt, kennen und vermeiden.

Bei einer Verallgemeinerung dieses Befundes auf das menschliche Herz ist allerdings Vorsicht geboten. Viele Zeitreihenanalysen von Patienten zeigen andere Dynamiken. Wenn Herzschlage pro Minute oder Stunde untersucht werden, so schwankt zwar ihre Frequenz haufig unabhangig von der Zeitskalierung nach einem ahnlichen Muster. Kardiologen vermuten daher fraktale Strukturen. Konnte man sie eindeutig in EKG-Kurven bestimmen und deuten, waren Risikopatienten besser zu behandeln. Medizinische Diagnose komplexer Herzdynamik bedeutet aber nicht nur Erkennen von makroskopischen Ordnungsparametern und Attraktoren. Diese Aufgabe genauer Messungen und mathematischer Analyse ist haufig schwierig genug. Zudem mussen die gefundenen Ordnungsparameter der Herzdynamik und ihre Attraktoren medizinisch richtig gedeutet werden. Chaos bedeutet nicht notwendig Krankheit und Tod, Regularitat nicht Gesundheit. So zeigten Zeitreihen, Spektrum und Phasenportrait eines Patienten acht Tage vor Herzstillstand vollstandig regulares und periodisches Verhalten mit einem Stabilitatspunkt im Phasenraum. In der Kardiologie sind fachubergreifende Untersuchungen von Medizinern und Mathematikern notwendig, um komplexe Systeme als verlassliches Diagnoseinstrumentarium zu entwickeln.

Eine der aufregendsten fachubergreifenden Anwendungen komplexer Systeme ist das menschliche Gehirn. Dazu wird das Gehirn als ein komplexes System von Nervenzellen (Neuronen) aufgefasst, die uber Synapsen elektrisch oder neurochemisch wechselwirken und sich zu Aktivitatsmustern («cell assemblies») verschalten konnen. Die Dynamik von Gehirnzustanden lasst sich dann durch Gleichungen von (makroskopischen) Ordnungsparametern modellieren, die solchen neuronalen Verschaltungsmustern entsprechen. Bei EEG-Aufnahmen misst ein komplexes System von Elektroden lokale Gehirnzustande mit elektrischen Potentialen. Der Gesamtzustand eines Patienten mit Epilepsie auf der Mikroebene lasst sich durch lokale Zeitreihen an den Elektrodenorten bestimmen. Fur die makroskopische Dynamik konnte im numerischen Computermodell ein Chaosattraktor im Phasenraum nachgewiesen werden. Allerdings gilt auch fur die Diagnose komplexer Gehirndynamik, dass es in der Medizin nicht nur um das Erkennen makroskopischer Ordnungsparameter geht. Erforderlich ist ebenso eine geeignete medizinische Interpretation dieser Gro?en als Krankheits- oder Gesundheitszustande.

Viele Neuronen sind nicht fest «verdrahtet» wie die Schaltelemente auf einem Computerchip. Ihre synaptischen Verbindungen lassen sich durch Lernregeln neurochemisch verandern. Dadurch entstehen synaptische Korrelationen (Aktivitatsmuster) im Gehirn, die wiederum Korrelationen von Au?enweltsignalen entsprechen. In PET (Positron-Emissions-Tomographie)-Aufnahmen des Gehirns lassen sich Schaltmuster bei unterschiedlichen Wahrnehmungen, Bewegungen, Emotionen und kognitiven Leistungen (z.B. Sprechen, Lesen, Rechnen) in Echtzeit beobachten. Die Lernregeln sind also die Selbstorganisationsverfahren eines komplexen neuronalen Systems, nach denen sich die Systemteile (Neuronen) unter geeigneten Nebenbedingungen von selbst zu Ordnungsmustern verbinden. Zu ihrer Erklarung reicht allerdings weder die thermodynamische Selbstorganisation aus Physik und Chemie noch die genkodierte Selbstorganisation in der Biologie aus. Nur die Moglichkeit des Lernens ist in hochentwickelten Organismen (wie z.B. dem Menschen) mit dem Aufbau eines Nervensystems genetisch vorgegeben. Was wir lernen, wie wir Probleme losen, wie sich unsere Gefuhle, Gedanken und Einstellungen entwickeln, ist genetisch nicht im Einzelnen vorgegeben. Beim Lernen haben wir es daher mit einer neuen Form der Selbstorganisation komplexer neuronaler Systeme zu tun.

In der Sprache der nichtlinearen Dynamik konnte also das Auftreten von Gedanken, Gefuhlen, Bewu?tsein u.a. als Emergenz von makroskopischen Gehirnzustanden aufgefa?t werden, die nicht durch einzelne Neuronen, sondern durch ihre nichtlineare Wechselwirkung erklarbar werden. In Fortsetzung des bisherigen Forschungsprogramms wurde es sich wieder um Losungen nichtlinearer Differentialgleichungen handeln. Allerdings sind bisher nur niedrig-dimensionale Anwendungen wie das eben erwahnte Beispiel der Epilepsie in dieser Weise mathematisch untersucht. Ein Beispiel aus der Kognitionsforschung sind die Kippbilder der Gestaltpsychologie, die als Ganzheit spontan auftreten und nicht aus der Summe ihrer Pixel erklarbar sind. Jedenfalls zeichnet sich fur die Theorie komplexer Systeme und nichtlinearer Dynamik ein Forschungsprogramm ab, nach dem die Emergenz von Kognition als Losungen von Gleichungen zu verstehen ist, die komplexen Zustanden entsprechender Gehirndynamik entsprechen.

Solche kognitiven Untersuchungen zeigen bereits, dass der Mensch als komplexer Organismus mit vielen ruckgekoppelten lokalen Gleichgewichten aufzufassen ist und nicht als auseinander- und zusammensetzbare Maschine nach dem Vorbild linearer Kausalitat. In der Medizin wurde daher bereits der Begriff der dynamischen Krankheiten eingefuhrt. Bei Patienten mit dynamischer Systemerkrankung ist der Korper nicht mehr in der Lage, physiologische Gleichgewichte selbststandig auszubalancieren und weitvernetzte Koordinationen zu ubernehmen. Auf der Makroebene sind neben dem Herzschlag die lebenserhaltenden Rhythmen der Atemfrequenz, der regelma?igen Verdauung, der Hormonzyklen oder des Menstruationszyklus zu erwahnen. Jeder von uns kennt mittlerweile den Jet-Lag als flugbedingte Zeitstorung des Wachen-Schlafen-Rhythmus. Die Ordnungsparameter dieser makroskopischen Ablaufe werden auf der Mikroebene durch viele biochemische Wechselwirkungen erzeugt, deren chemische Reaktionsgeschwindigkeiten aufeinander abgestimmt sind.

Die Komplexitat des menschlichen Organismus ist von der organischen bis zur zellularen Ebene durch immer kleinere Zeitkonstanten bestimmt, deren lokale Storung globale Veranderungen des Organismus zur Folge haben konnen. Diese Zeitkonstanten vergro?ern sich von den Reaktionsgeschwindigkeiten biochemischer Prozesse uber Zellteilungszeiten, physiologische Perioden und Frequenzen bis zur Lebensdauer des gesamten Organismus. Viele dynamische Krankheiten erweisen sich daher auch als Zeitstorungen auf der Komplexitatsskala des Organismus. Letztlich ist ein Organismus in die komplexen Zeitrhythmen der Natur eingebettet. Die biochemischen Reaktionsgeschwindigkeiten hangen von den Zeitkonstanten der Chemie und Quantenphysik ab. Die organischen und physiologischen Kreislaufe hangen von der naturlichen Nahrungskette, der zivilisatorischen Umwelt und schlie?lich den gro?en kosmischen Rhythmen unseres Sonnensystems ab. Dynamische Systemerkrankungen bleiben aber nicht auf den somatischen Bereich beschrankt. Die Einsicht in die nichtlineare Kausalitat des Gehirns fuhrt zu neuen Erklarungsansatzen in der Psychiatrie.

Philosophiehistorisch ist bemerkenswert, dass die Auffassung von der Natur als einer hierarchischen Skala immer komplexerer Phanomene von der «toten» zur «belebten» Materie auf die Antike zuruckgeht. Aristoteles spricht von einer «scala naturae» und beschreibt die «Selbstorganisation» (Autopoisis), die zur «Emergenz» neuer Phanomene fuhrt. Auf dem Hintergrund des damaligen Entwicklungsstands mathematischer Naturforschung (Euklidische Geometrie und Statik) konnte er sich allerdings nur qualitative Prozesse der Dynamik vorstellen. Heute verfugen wir uber mathematische Theorien nichtlinearer Dynamik, um viele dieser qualitativen Prozesse (wenigstens im Prinzip) auch mathematisch zu verstehen. Das ist keineswegs ein Physikalismus, also die Zuruckfuhrung von Kognitionsforschung, Biologie und Chemie auf Physik. Die mathematischen Methoden sind gegenuber der jeweiligen Anwendung und Interpretation der Grundbegriffe neutral. Hinzu kommt, dass auf der Stufe der Systemelemente der neue Systemzustand nicht erklarbar ist, sondern erst durch die Dynamik ihrer Wechselwirkung. Mathematisch sind die Ordnungsparameter eben makroskopische Gro?en, die im Sinne nichtlinearer Dynamik mehr sind als die Summe der Systemelemente. Auf dem Hintergrund dieser mathematischen Analyse war die philosophische Rede von der Emergenz in aristotelischer Tradition also durchaus richtig und der physikalische Reduktionismus ein Irrtum.

4. Selbstorganisation und Dynamik in Computer-, Informations- und Kommunikationssystemen

Die bisherigen Beispiele zeigen bereits, dass die Untersuchung von nichtlinearer Dynamik und Chaos in komplexen Systemen wesentlich auf den Computer angewiesen ist. Die Prinzipien der mathematischen Theorie waren bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt. Aber erst Visualisierung und Computerexperimente mit heutiger Rechnertechnologie machen den Forschungsboom und die Popularitat verstandlich, die unser Forschungsgebiet heute auszeichnet. Bereits Leibniz (1714) formulierte die fur die Naturforschung folgenschwere Vision, wonach die mehr oder weniger komplexen Systeme der Natur als mehr oder weniger komplexe Automaten zu verstehen seien. In seiner Monadologie (� 64) hei?t es: «So ist jeder organische Korper eines Lebewesens eine Art von gottlicher Maschine oder naturlichem Automaten, der alle kunstlichen Automaten unendlich ubertrifft.» Leibniz sieht eine Hierarchie von Komplexitatsgraden fur Automaten vor, die bis zu unendlichen Maschinen reichen. In moderner Lesart konnte man unter einer unendlichen Maschine eine Turing-Maschine mit unbegrenzten Speichermoglichkeiten (d.h. mit einem unendlichen Band) verstehen. Dann wurde Leibnizens Zitat in das Zentrum der modernen Artificial Life-Forschungen treffen: Sind dynamische Systeme von der Komplexitat lebender Organismen auf (universellen) Turing-Maschinen simulierbar?

Der Zusammenhang zwischen dynamischen Systemen, wie sie in den Naturwissenschaften untersucht werden, und Automaten lasst sich jedenfalls mathematisch prazisieren. Wie in den vorherigen Abschnitten gezeigt wurde, ist die Dynamik eines komplexen Systems durch Differentialgleichungen mit kontinuierlichen Variablen und kontinuierlichem Zeitparameterbestimmt. Diskrete Vereinfachungen von atomaren, molekularen und zellularen Zustanden genugen haufig, um die hochgradige Nichtlinearitat einer Systemdynamik im Computermodell zu simulieren. Ein erfolgreicher Ansatz sind die zellularen Automaten. Der zellulare Automat simuliert nichtlineare Dynamik und Selbstorganisation im diskreten Modell.

Analog zu den Phasenubergangen dynamischer Systeme und ihren Attraktoren wurden aufgrund von Computerexperimenten vier Klassen zellularer Automaten mit verschiedenen Komplexitatsgraden unterschieden. Automaten der 1. Klasse erreichen schon nach wenigen Schritten unabhangig vom Anfangszustand einen Gleichgewichtszustand, von dem ab alle Zellen in Zukunft z.B. wei? bleiben. Es handelt sich also um einen Fixpunktattraktor. Automaten der 2. Klasse erzeugen langere periodisch-konstante Muster. Veranderungen der Anfangsbedingungen haben nur geringen Einfluss. Automaten der 3. Klasse produzieren sehr lange komplexe Muster mit lokalen Strukturen, die an organische Formen erinnern und empfindlich auf geringste Veranderungen der Anfangsbedingungen reagieren. Automaten der 4. Klasse erzeugen wieder kurzere Muster, die aber in chaotisch-irregulare (,fraktale’) Verteilung der Zellzustande ubergehen. Sie entsprechen also Chaos. Abweichend von Wolframs (1984) ursprunglicher Einteilung wurden die vier Automatenklassen in einer Reihenfolge genannt, die einen Phasenubergang von immer komplexer werdenden Strukturen bis zu Chaos nahelegt.

Von komplexen dynamischen Systemen wissen wir, dass sich lebende Organismen einerseits von der Erstarrung in zuviel Ordnung im thermischen Gleichgewicht fernhalten mussen, aber andererseits auch nicht in zuviel Chaos auflosen durfen. Das wurde den Komplexitatsgraden von zellularen Automaten als Simulationen dynamischer Systeme entsprechen. Systeme fern des thermischen Gleichgewichts, aber am Rande des Chaos haben den hochsten Komplexitatsgrad. Systeme mit hochgradiger Regularitat wie z.B. Kristalle in der Nahe des thermischen Gleichgewichts oder Systeme mit chaotischer Irregularitat wie Molekule in einem Gas haben geringe Komplexitat. Lebende und lernende Organismen wie das hochstrukturierte Molekulsystem der DNA oder das hochausdifferenzierte menschliche Gehirn hatten die hochsten bekannten Komplexitatsgrade fern von der Erstarrung der Systeme der 1. Klasse, jenseits auch der periodischen Oszillationen der 2. Klasse wie z.B. bei der BZ-Reaktion, aber im kritischen Phasenubergang der 3. Klasse am Rande des Chaos der 4. Klasse.

Zellulare Automaten konnen aus einfachen Anfangsmustern mit eindeutig definierten Regeln vollig zufallige komplexe und irregulare Muster erzeugen, deren Evolution im Detail durch kein endliches Programm vorausgesagt ist. Wie bei Turings Stop-Problem mussen wir dann im Computerexperiment abwarten, wie sich das System entwickelt und konnen nicht im vorhinein entscheiden, wann oder ob es uberhaupt halt. Diese Eigendynamik komplexer Systeme hat zentrale erkenntnistheoretische Bedeutung, denn es trifft konsequenterweise auf alle dynamischen Systeme zu, die wenigstens so komplex sind wie ein entsprechender zellularer Automat. Insbesondere werden wir bei entsprechenden biologischen Systemen mit solchen Eigendynamiken rechnen mussen.