Hermann Haken
Institut fur Theoretische Physik, Zentrum fur Synergetik
Pfaffenwaldring 57/4, D-70550 Stuttgart
Einleitung
Das vergangene Jahrhundert wird oft als das der Industriegesellschaft bezeichnet. Zu ihrer Entwicklung trugen zum einen fundamentale Erfindungen bei, dann aber auch neuartige Produktionsmethoden, wie das Flie? band, und die extreme Arbeitsteilung im Sinne des Taylorismus. Zu Ende jenes Jahrhunderts zeichnete sich bereits die Formierung der Informationsgesellschaft ab.
Die technischen Moglichkeiten, wie sie sich insbesondere in der Kernkraft und neuerdings in der Gentechnik wie auch in den Computerwissenschaften darstellen, werden allerdings nicht nur als Segen, sondern oft auch als Bedrohung empfunden. Damit einher gehen neuartige Anforderungen an menschliche Organisationen, wie den Staat und seine Institutionen mit seiner Gesetzgebung, der Gesundheitsfursorge, usw. und damit die Frage, wie die Organisationskonstrukte der modernen Gesellschaft die Problemstellung der Informationsgesellschaft bewaltigen konnen.
Hierbei ist unverkennbar, dass der Mensch immer mehr in den Mittelpunkt des Denkens gerat, und wir es immer mehr mit dem faszinierenden Wechselspiel zwischen Individuum auf der einen Seite und dem System, was immer auch das ist, auf der anderen Seite zu tun haben. Das, was wir kunftig tun werden, wird, gerade durch den hohen Stand der Technik, nicht so sehr durch diese bestimmt, sondern durch soziologische Konstrukte, insbesondere durch soziologische Konsensusfindung.
Das Bild vom Menschen
Wenn der moderne Mensch sich in den Mittelpunkt des sozialen Geschehens stellt, so muss er wohl ein Bild von sich selbst besitzen. Aber hier entstehen bereits die ersten Schwierigkeiten, einen allgemeinen Konsensus hieruber wird man kaum finden. Sehen wir uns nur die verschiedenen Blickrichtungen der Naturwissenschaftler einerseits und der Soziologen andererseits an, so erkennen diese ganz verschiedene Bestimmungsfaktoren fur menschliches Verhalten, die einen in der Genetik, die anderen in der Umwelt und in der Tradierung von Werten. Wir sind mit Postulaten konfrontiert, wie die, dass der Mensch einen freien Willen besitzt, dass er nach Idealen lebt; wir sprechen von der Wurde des Menschen, davon, dass die Wurde des Menschen unantastbar ist.
Blickt man kritischer hin, so zeigen uns psychologische Experimente, dass Menschen beeinflu?bar sind. Ein beruhmtes Beispiel ist die Untersuchung von Solomon Asch Mitte des letzten Jahrhunderts. Hierbei mussten Personen der Reihe nach sagen, welche von drei Linien genauso lang wie eine vorgegebene Musterlinie war. Die letzte Person war die eigentliche Versuchsperson, wahrend alle anderen vor ihr Helfer des Versuchsleiters waren, was aber die Versuchsperson nicht wusste. Resultat: Bei derartigen Versuchsreihen schlossen sich im Mittel sechs von zehn Versuchspersonen der Mehrheitsmeinung an, obwohl diese falsch war.
Die anscheinend evidente Schlussfolgerung aus diesem Experiment ist, dass Menschen durch die Meinung ihrer Mitmenschen beeinflusst werden konnen und sogar dies in einem erheblichen Ausma?. Dies kann als Grundlage fur mathematische Modelle soziologischen Verhaltens benutzt werden.
Tragt man diese Schlussfolgerung aber vor Soziologen vor, so erhalt man eine vollig andere Anwort. Diese sagen: Bei den hier durchgefuhrten Experimenten wollten sich die Menschen soziologisch konform verhalten, sie wollten «sociable» sein. Wenn es sich aber um wirklich wichtige Entscheidungen gehandelt h\»atte, etwa im politischen Leben, dann h\»atten die Menschen auf jeden Fall ihre eigene Meinung voll vertreten und sich nicht beeinflussen lassen. Hierauf lie\ss e sich erwidern: Gerade bei schwierigen politischen Entscheidungen wird es f\»ur den Einzelnen auch schwierig sein, die richtige Entscheidung zu treffen, und er verl\»asst sich dann doch vielleicht lieber auf die Meinung der Mehrheit.
Ich will diese Diskussion hier nicht vertiefen, sie soll lediglich zeigen, auf welch schwankendem Boden alle unsere Annahmen uber menschliches Verhalten stehen.
Das System: Synergetik
Wer oder was ist nun in der Lage, Ordnung in das System bestehend aus Individuen zu bringen? Blickt man in die Geschichte, so ist die Antwort zunachst einfach: Es gab fast stets Herrscher der verschiedensten Couleur, oder in anderen Worten, die Menschen richteten sich nach einem Steuermann. Blicken wir aber in die belebte Natur, so erkennen wir, dass es in den Organismen keinen Steuermann fur deren Wachstum und Verhalten gibt. Ja, auch in Gemeinschaften von Organismen, angefangen von Bakterienkolonien bis hin zu vielen Tierpopulationen mit ihren ausgepragten Netzwerken auf allen moglichen Stufen, ist keinerlei Steuermann zu erkennen. Auch etwas, was etwa einem demokratischen Prinzip entsprache, lasst sich kaum finden. Sicher gibt es in einigen Tierpopulationen, etwa den Primaten, hierarchische Strukturen, aber im Gro?en und Ganzen fehlen derartige Organisationsformen in weiten Teilen des Tierreichs und auch in der Pflanzenwelt. Es lohnt sich also, einen Blick auf Organisationsprinzipien der Natur zu werfen, die nicht auf hierarchische Organisationsformen hinaus laufen: Diese Organisationsformen, bei denen keine ordnende Hand, kein Steuermann zu erkennen ist, werden als Selbstorganisation bezeichnet. In den letzten Jahrzehnten ist ein umfangreiches Gebiet entstanden, das diese Fragen interdisziplinar von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus behandelt, die Synergetik, die Lehre vom Zusammenwirken. Wie wir in diesem Artikel sehen werden, sind deren Ergebnisse von unmittelbarer Relevanz fur gesellschaftliche Prozesse, obwohl die ursprunglich aufgedeckten Gesetzma?igkeiten sich auf Vorgange in der unbelebten Natur wie auch auf biologische Prozesse bezogen. Hierbei verleiht die Selbstorganisation den Systemen Fahigkeiten, die ansonsten einen gro»sen Arbeits- und Steuerungsaufwand erfordern wurden. Einige Beispiele mogen dies erlautern: Wird eine Flussigkeit, etwa Ol, gleichma?ig von unten erhitzt, so bilden sich von einem bestimmten Erhitzungsgrad an bienenwabenartige Bewegungsmuster aus. Entstehen diese, so wird der Warmetransport von unten nach oben schlagartig erhoht. In diesem Sinne wird das System also effizienter. Von selbst sich ordnende Vogelschwarme senken durch ihre Formation den Energieverbrauch. Fischschwarme wirken auf Rauber abschreckend und schutzen sich dadurch. Schlie?lich, das menschliche Gehirn wird nicht nur durch die Gene bestimmt, sondern in seinen Verknupfungen ganz wesentlich durch Erfahrungen im Laufe der menschlichen Entwicklung. Sollten also hier zu Grunde liegende Prinzipien nicht auch fur den ja hochst begabten Menschen von Nutzen sein und z.B. die Planwirtschaft alt aussehen lassen?
Bevor wir uns dem zentralen Thema dieses Artikels zuwenden, wird es also zweckma?ig sein, uns einige der von der Synergetik aufgedeckten Prinzipien vor Augen zu fuhren. Eine Fulle von Erscheinungen in den verschiedensten Wissensgebieten lasst sich uberraschen\-derweise mit relativ wenig Begriffsbildungen wiedergeben. Jedes System ist au?eren Bedingungen unterworfen. Diese Bedingungen werden in Form von sogenannten Kontrollparametern beschrieben. Werden Kontrollparameter geandert, so kann sich das System oft stetig an die neuen Bedingungen anpassen. Etwa wenn wir einen Stab belasten, so verbiegt er sich. Wird aber die Belastung zu gro?, so bricht er. Die fundamentale Einsicht: Bei ganz bestimmten Werten der Kontrollparameter andert sich das Systemverhalten schlagartig. Dieses neue Verhalten kann — wiederum erstaunlicherweise — durch wenige Gro?en, die sogenannten Ordner, beschrieben werden. Es wurde vom eigentlichen Thema dieses Artikels zu weit weg fuhren, die Ordner fur die physikalischen Systeme naher zu beschreiben. Moge die Bemerkung genugen, dass alle Ordner auch eine Funktion besitzen: Sie bestimmen das Verhalten der einzelnen Teile, so wie etwa ein Marionettenspieler das Verhalten der Puppen bestimmt. Dies ist das Versklavungsprinzip der Synergetik.
Allerdings gibt es hier zwei wichtige Vorbehalte: zum einen sind die einzelnen Teile immer noch in der Lage vom hier vorgeschriebenen Normverhalten in bestimmtem Umfange abzuweichen, ja, im Extremfall von ihm ganz auszubrechen. Die andere Abweichung vom Bild des Marionettenspielers ist die Tatsache, dass die einzelnen Teile durch ihr Verhalten erst die Ordner bestimmen. Im Sinne der Synergetik haben wir es hier mit einer zirkularen Kausalitat zu tun. Die Ordner bestimmen das Verhalten der Teile, umgekehrt aber bestimmen die Teile durch ihr kollektives Verhalten das Verhalten der Ordner. Damit ergeben sich wichtige Konsequenzen fur die Kontrolle von Systemen. Bei der sonst ublichen direkten Kontrolle wird den einzelnen Teilen ihr Verhalten vorgegeben. Bei der indirekten Kontrolle, wie sie in der Synergetik untersucht wird, werden im ersten Schritt Kontrollparameter, d.h. Rahmenbedingungen, geandert. Darauf bilden sich spezielle Ordner, die dann in Antwort auf die neuen Kontrollparameter das Kollektivverhalten des Systems wiedergeben. In solchen Situationen, oft auch als Instabilitaten bezeichnet, tritt nun, wie die Synergetik zeigt, in vielen Fallen ein hochst uberraschendes Verhalten auf, namlich das System hat im Prinzip mehrere Optionen, von denen es naturlich nur eine einzige realisieren kann. Welche Option realisiert wird, daruber entscheidet ein oft scheinbar geringfugiger Anlass. Auf Grund dieser Tatsache hatte ich schon vor Jahren eine Theorie von Revolutionen entwickelt: Zunachst wird ein System, z.B. durch Terroranschlage, destabilisiert, wodurch eine allgemeine Richtungslosigkeit erzeugt wird. Dann muss eine entschiedene Gruppe von Menschen auftreten, die das System in eine neue Richtung treibt. Leider war ich mit dieser Theorie nicht der Erste. Wie ich spater erfuhr, hatte dies bereits Lenin propagiert. Spater ist dann, wie mir Fachleute sagten, die chinesische Revolution in ahnlicher Weise verlaufen. Wir mussen aber gar nicht zu solchen revolutionaren Extremfallen ubergehen. Nur allzu oft erleben wir auf allen moglichen Ebenen bei demokratischen Entscheidungen eine Art Pattsituation, wobei eine kleine Gruppe, oder eine kleine Partei, schlie»slich den Ausschlag geben kann. Dieses Beispiel moge auch zeigen, dass das blinde Vertrauen auf Selbstorganisationseffekte allein, sei es z.B. auch in einer Firma, fatale Folgen haben kann. Das System lauft plotzlich in eine vollig unerwartete und zugleich auch ungewunschte Richtung. Zugleich sehen wir aber auch, dass schon kleine Steuerungseinflusse das System in eine gewunschte Richtung treiben konnen. Schon hier ist festzuhalten, dass die moralisch blinden Gesetzma?igkeiten kollektiven Verhaltens, wie sie die Synergetik zu Tage gefordert hat, erst durch das verantwortungsbewusste menschliche Verhalten soziologisch akzeptabel gemacht werden.
Von der Organisation zur Selbstorganisation
Um die Aspekte der Selbstorganisationsgesellschaft naher zu beleuchten, erscheint es nutzlich, an ihr exaktes Gegenteil zu erinnern, die sowjetische Planwirtschaft. In ihr gab es kein Privateigentum und in ihr war alles staatlich. Alle Burger waren Staatsangestellte, von der Toilettenfrau bis zum Direktor eines gro?en Kombinats. Es gab keinerlei private Vereine, keine privaten Clubs, selbst wenn diese nur harmlosen Basteleien nachgehen wollten. Das Gesundheitswesen war staatlich, die Firmen naturlich ohnehin, der Sauglingshort bis hin zum Altersheim. Privatinitiative war nicht nur verpont, sondern sogar suspekt. Alles war Teil einer riesigen Planwirtschaft und das System fuhrte sich selbst ad absurdum. Der bedeutende Nationalokonom Friedrich August von Hayek hatte diesen Zusammenbruch schon fruhzeitig prophezeit. Er hatte erkannt, dass ein komplexes System, wie die Wirtschaft oder ein Staat, der verteilten Intelligenz der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft bedarf und nicht von einem Zentralorgan gesteuert werden kann. Die Vorausberechenbarbeit der Ablaufe ist einfach unmoglich. Im Ostblock setzte sich schlie?lich die Erkenntnis durch, dass hier bei den Informationsflussen von unteren Ebenen zum zentralen Planungszentrum ein fur das System todlicher Informationsflaschenhals entsteht. So ist es nicht verwunderlich, dass fuhrende Institutionen, wie etwa die Hochschule von St. Gallen, auch fur Firmen das Konzept der Selbstorganisation progagierten und sich dieses Konzept auf allen Ebenen durchzusetzen beginnt.
Beleuchten wir also in diesem Artikel die andere Alternative, die Selbstorganisationsgesellschaft, und versuchen wir hier Vorteile, Mechanismen und Nachteile aufzuzeigen. Die grundsatzliche Frage wird also sein: Wo ist der Staat oder auch Organisation notig, oder wo sind diese Organisationsformen entbehrlich und konnen durch Selbstorganisation ersetzt werden? Dabei mussen wir uns im klaren sein, dass die dabei auftretenden synergetischen Ordner keineswegs materiell vorhanden oder gar eine Person sind. Sie sind viemehr ideelle Konstrukte, die dennoch auf die menschlichen Individuen einwirken. Ein Beispiel hierfur ist die Sprache eines Volkes. Wird ein Baby geboren, so wird es der betreffenden Sprache ausgesetzt, es erlernt dies (wird von ihr versklavt) und tragt diese dann weiter (tragt zur Existenz des Ordners bei). Weitere Beispiele sind Staatsformen, Gesetzeswerke, corporate identity, wissenschaftliche Paradigmen im Sinne von Thomas S. Kuhn, um nur einige zu nennen. In Diktaturen war das Versklavungsprinzip der Synergetik deutlich zu erkennen.
Auf dem Weg zur Selbstorganisationsgesellschaft
Wie weit konnen wir bereits heute von der Verwirklichung einer Selbstorganisationsgesellschaft sprechen? Diese ist zweifellos von einer fortschreitenden Entstaatlichung gekennzeichnet. Ein ehemaliger Sowjetburger wird wahrscheinlich feststellen, dass wir schon auf diesem Wege enorm weit fortgeschritten sind, ein Westdeutscher, dass hier sich schon einiges bewegt hat, wahrend der Amerikaner, seien es Nord- oder Sudamerikaner, bemerken wird, dass in seinem Lande vieles schon verwirklicht worden ist. Bei den Verkehrsmitteln strebt die Bahn eine vollige Privatisierung an, ebenso der Flugverkehr. Auf die Dauer werden sich vermutlich auch Autobahnen, einschlie?lich Brucken und Tunnel, bzgl. Bau, Unterhalt und Geb\»uhren dieser Entwicklung anschlie»sen. Hierbei kommen allerdings Selbstorganisationsprinzipien nur bedingt zum Tragen. Kostensenkung durch Konkurrenz zwischen verschiedenen Unternehmen kann, wie sich schon durch einfache theoretische Uberlegungen der Synergetik zeigen lasst, wie es ja auch die Praxis beweist, zum Ruin von einzelnen Unternehmen fuhren, ja es kann zur Monopolisierung kommen. Trotzdem beobachten wir bereits jetzt selbst beim Schienenverkehr das Auftreten zunachst miteinander kooperierender spater aber auch konkurrierender Eisenbahngesellschaften. Bei der Energieversorgung wird die Rolle der Gemeinde und des Staates dahin schwinden, sei es bei der Wasserkraft, Atomkraft, Kohle und Ol ebenso auch beim Betrieb der entsprechenden Netze Elektrizitat, Wasser, Warme, Gas. Die Ubergabe, etwa der Entsorgung, in private Hande, auf der Ebene von Gemeinden oder des Staates ist in vollem Gange. Die Entstaatlichung hat schon langst die verschiedenen Nachrichtennetzwerke erfasst oder ist dabei, diese zu erfassen, sei es bei Telefon, Fax, Internet, Postdienste fur Briefe, Packchen und Pakete, wo die verschiedenen Zustelldienste zum alltaglichen Bild unserer Stadte gehoren, wie dies auch schon langst beim Gutertransport durch Speditionen der Fall war. Bald werden auch die letzten staatlichen Anteile an Industrieunternehmen veraussert sein.
Wenden wir uns nun Gebieten zu, wo bislang hier in Deutschland die meisten Institutionen von der Gemeinde oder vom Staat betrieben werden. Ich meine hier das gesamte Gebiet der Erziehung. Werden Sauglingsheime und Kindergarten, wenigstens zum Teil, in privater Hand sein, so sind Schulen und Universitaten weitgehend staatlich. Blickt man in die USA, wo die Entwicklung, ob man will oder nicht, der europaischen in vielen Fallen um ca. zehn Jahre voraus ist, so fallt es nicht schwer, auch fur Deutschland eine weitere Entstaatlichung vorauszusagen. Konzentrieren wir uns hier z.B. auf die Universitaten. Hier lasst sich zweifelsohne ein erheblicher Einfluss der offentlichen Hand, insbesondere auch uber die Parteienvertreter, nicht leugnen. Zugleich sind die Unterhaltungskosten fur Universitaten enorm gestiegen.
Die Selbstorganisationsgesellschaft
Auf Grund der neuen technischen, medizinischen und wissenschaftlichen Moglichkeiten streben wir nach neuen Freiraumen, die durch weniger oder keine Kontrollen gekennzeichnet sind. Dabei mussen wir uns aber bewusst sein, dass diese Moglichkeiten auf unsere Gesellschaft als neue au?ere Bedingungen, im Sinne der Synergetik also als geanderte Kontrollparameter, wirken. Dabei treten Instabilitaten auf — im soziologischen Sinne Verunsicherungen — die neue Losungen erfordern. Hierbei mussen wir die Ergebnisse der Synergetik zur Kenntnis nehmen, dass die neuen Losungen keineswegs eindeutig vorgegeben sind. Oft sind mehrere Losungen moglich, wobei die eine die andere ausschlie?t. Beleuchten wir dies anhand des Phanomens der sogenannten Konfliktverlagerung. Ein kleines Beispiel moge dieses erhellen: Wenn ein Paar heiratet, so entsteht die Frage, welchen Namen das Paar annimmt. Auf der kollektiven Ebene hat dies fruher der Gesetzgeber geregelt, indem er vorschrieb, dass der Name des Mannes nun der Familienname wird. Der Gesetzgeber kann naturlich darauf auch verzichten und somit den Konflikt der Namensgebung auf das Paar selbst ubertragen. Bei fast all den Prozessen, die wir heutzutage beobachten, geschieht diese Konfliktverlagerung und zwar in Richtung von der kollektiven, d.h. staatlichen Ebene, auf die private Sphare. Mit der Schaffung von immer mehr privaten Entscheidungsmoglichkeiten geht zugleich, so das Argument der Okonomen, ein Abbau vieler Verwaltungsschritte einher — es konnen offentliche Mittel eingespart werden und das Wirtschaftssystem wird effizienter. Betrachtet man dies vom Standpunkt des wirtschaftlichen Konkurrenzverhaltens zwischen Staaten, so ist zu erwarten, dass die mit der starksten Deregulierung die effizientesten seien. Ein Blick auf die USA konnte dies bestatigen. Wie weit lasst sich diese Art von Deregulierung treiben? Gehen wir zum Extrem: Abschaffung der Polizei, Ubergang zur Selbstverteidigung, jeder darf Waffen zu diesem Zweck besitzen. In dunn besiedelten Gebieten einschlie»slich dorflicher Gemeinden konnte dies durchaus sinnvoll sein. Aber auch in Ballungsgebieten bieten sich neue Losungen an. So sind zum Beispiel Gro?einsatze der Polizei, z.B. bei Sportereignissen oder politischen Demonstationen, zwar selten, erfordern aber viel Personal. Soll dies also standig bereit gehalten werden oder konnte man nicht wie bei der freiwilligen Feuerwehr verfahren, wo in den Dorfern und Gemeinden die Situation ganz ahnlich ist? Ware also eine freiwillige Polizei fur die Gro?einsatze nicht erwagenswert? Dabei konnte diese mit einer zahlenma?ig viel kleineren Berufspolizei zusammenarbeiten.
Ein weiterer Weg zu Einsparungen fuhrt uber Privatisierung, wo Tendenzen schon sichtbar werden, wie privater Objektschutz fur Firmen, fur Bahnhofe, Flughafen, etc., wobei der jeweilige Betreiber spezielle Firmen engagiert.
Gehen wir uber von der Polizei zur Justiz. Lie?e sich diese nicht auch in private Hande uberfuhren? Lie?e sich der Vorgang der Rechtsprechung nicht auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten «`Aufwand/Nutzen»‘ fuhren? Ich glaube, in Bereichen privatrechtlicher Natur sicherlich. Anders sieht es bei Kapitalverbrechen aus, wohingegen Eigentumssdelikte vielleicht sogar in die private Kategorie fallen. In einer Selbstorganisationsgesellschaft konnte sogar die Privatisierung des Strafvollzugs kein Tabu mehr bleiben — ich selbst bin gespannt, wie sich dies in Zukunft entwickeln wird. Vielleicht wird man hier nach Art der Straftaten differenzieren mussen. Es ist vielleicht ganz zweckma?ig, auf die Entwicklung von Firmen zu sehen, die in gewissem Sinne Abbilder der Gesellschaft sind. Hier wird immer mehr ein flaches Management angestrebt, d.h. der Abbau von Hierarchien. Die Firmen setzen mehr auf Selbstorganisation, wodurch z.B. der gefurchtete Informationsflaschenhals vermieden wird. Dabei streben moderne Managementberatungsfirmen an, in Firmen kollektive Netzwerke zur Entscheidungsfindung heranzuziehen, wobei ein wesentlich gro?eres Sachwissen eingebracht werden kann.
Ein interessanter Aspekt ist, wie weit Konfliktverlagerung weg vom Staat getrieben werden kann, oder allgemeiner ausgedruckt, weg von einem allgemeinen Konsensus. Wir kommen hier zu der Idee, dass auch die Ethik frei verhandelbar werden konnte. Konkrete Anlasse bieten sich immer mehr, zum Beispiel die Sterbehilfe, das Klonen von Menschen, die Verwendung embryonaler Stammzellen. Hier lohnt sich ein Blick auf die Synergetik in mehrfacher Hinsicht. Neue technische oder medizinische Moglichkeiten (ich vermeide hier das Wort Fortschritte, um keine Bewertung vorwegzunehmen) wirken wie Kontrollparameter, bei deren kritischen Werten sich das Systemverhalten andert, ja sogar andern mu?. Es konnen also neue Ordner entstehen — und ein solcher ist die Ethik. Zugleich wird bei der Frage der Verwendung embryonaler Stammzellen deutlich, wie stark hier der Einfluss der Religion als Ordner ist. Nach dem christlichen Glauben entsteht das Leben bereits bei der Vereinigung von Samen und Eizelle, nach dem judischen Glauben hingegen erst einige Wochen spater. Wie wir schon jetzt sehen, kann dies unmittelbaren Einfluss auf die jeweilige Forschertatigkeit ausuben, deren Ergebnisse sich schlie? lich in erheblichem Ma? e therapeutisch und wirtschaftlich nieder schlagen.
Im Sinne der Synergetik wird die Ethik zum selbstorganisierten Ordner, der uberkommene Ordner ablost. So ware etwa denkbar, dass ein wissenschaftliches Konzept, wann das Leben beginnt, an die Stelle von Dogmen tritt. Im Hinblick auf Organspenden, aber auch aus formalen juristischen Grunden, sind genaue Kriterien dafur, wann der Tod eingetreten ist, wissenschaftlich erarbeitet worden. Hier besteht gegenwartig eine merkwurdige Asymmetrie in der gesellschaftlichen Bewertung der Entstehung und des Vergehens von menschlichem Leben. Wenn wir Ethik als Ordner auffassen, so mussen wir uns — im systemtheoretischen Sinne der Synergetik — daran erinnern, dass ein Ordner ein System dominieren kann, aber auch verschiedene Ordner koexistieren konnen. So ist es durchaus denkbar, dass verschiedene Ethiken selbst innerhalb einer Nation nebeneinander existieren, so zum Beispiel wo Gruppen von Menschen mit einem Krankenhaus liiert sind, das Sterbehilfe gibt, oder andere Gruppen mit einem anderen Krankenhaus, das diese strikt ablehnt.
Es ist damit zu rechnen, dass das Konzept der Eigenverantwortung immer mehr in den Vordergrund geruckt wird. Dies macht die Situation fur den Einzelnen indessen nicht einfacher. Seine Entscheidungsfindung muss in einem Umfeld stattfinden, das zunehmend turbulenter wird. Die Anwort, die hier ublicherweise gegeben wird, sind Sachzwange, die den Einzelnen zu bestimmten Entscheidungen bringen. Die Konsequenzen sind — so oder so — unbehaglich: Entweder die Entscheidungen sind eindeutig durch die Sachzwange gegeben, dann ist der Mensch wie eine Marionette — ja mehr noch, wie ein Molekul in einer Flussigkeit, von der allgemeinen Stromung mitgerissen. Oder aber es gibt mehrere Entscheidungsmoglichkeiten: Wie die richtige fallen?
Wissensvermittlung und politische Willensbildung
Die neuen technischen Moglichkeiten der Wissensvermittlung, insbesondere durch das Internet, eroffnen neue Wege zur politischen Meinungsbildung, vielleicht aber auch zur politischen Willensbildung. Bislang wurden Meinungen durch Zeitungen, Rundfunkanstalten und Fernsehen — wenigstens in gewissem Umfang — kanalisiert, wobei das Spektrum von staatlich gelenkten Medien in Diktaturen bis zur verantwortungsbewussten Meinungsvielfalt privater Medienanbieter reicht. Hierbei treten Ruckkopplungseffekte auf. Zeitungen etwa bilden ein gewisses Couleur, um sich auf eine jeweils bestimmte Leserschaft einzustellen, die dann wiederum eine bestimmte Zeitung bevorzugt. Zwischen Zeitungen kommt es so zu Konkurrenzverhalten. Kann es auch im Internet im Sinne der Selbstorganisation zu einer Strukturisierung in der Meinungsvielfalt kommen? Dies wird auf dem finanziellen Wege geschehen, zumindest wenn es sich um seri\»ose Berichterstattung und fundierte Meinungsubermittlung handelt. Beides kostet Geld — viel Geld — so dass die Anbieter gezwungen sind, Gebuhren fur ihre Dienste zu erheben. Dies fuhrt zu einem Wettkampf der Anbieter um die Kunden — im Sinne der Synergetik werden die Anbieter zu Ordnern — und je nach Differenzierung der Kundeninteressen konnen verschiedene Ordner — wie bei Zeitungen — koexistieren oder mussen schlie?lich einem einzigen Platz machen. Was passiert mit den Anbietern, die ihre Produkte billig herstellen? Diese konnen nur durch Gebuhren seitens der Netzbetreiber abgeschreckt werden.
Wie wohl inzwischen aus diesem Artikel klar geworden ist, konnen sich selbst organisierende Systeme in Richtungen laufen, die nicht vorausgesehen waren oder — im soziologischen Falle abzulehnen sind — denken wir etwa an Rassismus. Hier auf die Wirksamkeit systemischer Gesetzma?igkeiten allein zu hoffen, ware eine fatale Illusion. Ich komme hierauf noch zuruck.
Wie kann in der Selbstorganisationsgesellschaft der Schritt von der politischen Meinungsbildung zur politischen Willensbildung geschehen? Hier bieten die Nachrichten- und Computertechnik neue M\»oglichkeiten, die Parteien \»uberfl\»ussig erscheinen lassen. Ich denke hier an eine Art st\»andiger Volksabstimmungen. Durch die Berichte der Medien erkennen die B\»urger die Notwendigkeit zu politischem Handeln. Dies k\»onnen neue Steuergesetze, Strafgesetze, etc. sein, aber auch Entscheidungen z.B. \»uber einen Milit\»areinsatz. Mit anderen Worten, der B\»urger entscheidet direkt \»uber Legislative, aber auch \»uber Exekutive. Ob beides m\»oglich ist, sei hier dahin gestellt, aber es lassen sich hier vermutlich ad\»aquate Verfahrensweisen entwickeln. So wie bisher stichprobenartig Meinungsumfragen erfolgten, k\»onnen jetzt alle B\»urger ihre Meinung elektronisch mitteilen, wobei durchaus Konfliktsituationen entstehen k\»onnen. Es muss also ein Prozess der Konsensusfindung im elektronischen Zeitalter gefunden werden. Dies kann durch
Expertenanh\»orung — das Fernsehen ist bereits voll davon — geschehen, wobei wohl nicht selten eine Pattsituation zu erwarten ist. Eine kleine Stimmenmehrheit kann wiederum den Ausschlag geben. Wenn aber etwa gleichgro»se Zahlen verantwortungsbewusster Menschen zu zwei verschiedenen L\»osungen kommen, so k\»onnen diese von der Gesamtheit gesehen so schlecht nicht sein, wobei allerdings jeweils in den Konsequenzen eine Gruppe gegen\»uber der anderen bevorzugt wird. Bei diesem Verfahren wird nat\»urlich die Parteidisziplin durch das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen ersetzt. Nachdem der Unterhalt von Parteien teuer ist, es auch Diskussionen um Spenden, etc. gibt, halte ich diese Art von «`direkter Demokratie»‘ f\»ur gar nicht so unwahrscheinlich. Vielleicht wird diese Art «`elektronischer Direktdemokratie»‘ langsam, sogar «`schleichend»‘ eingef\»uhrt, indem dieses Verfahren auf Gemeindeebene erprobt wird oder auf staatlicher Ebene zun\»achst nur Teilgebiete der Politik erfasst werden.
Erziehung und Wisssenschaft
Wenden wir uns der Erziehung zu. Privatschulen sind in Deutschland die Ausnahme und bed\»urfen der staatlichen Anerkennung. Zudem sind sie im allgemeinen nur finanziell gut gestellten Kreisen zug\»anglich. Die technischen M\»oglichkeiten des Fernunterrichts deuten sich hier erst an. Gibt es gen\»ugend Teilnehmer, so wird dieser f\»ur viele erschwinglich, und es bilden sich auf dem Wege der Selbstorganisation neue Gruppierungen von Sch\»ulern und Lehrern heran. Spricht es sich herum, dass die betreffenden Sch\»uler im Leben bessere Chancen als die von staatlichen Schulen haben, so wird der Zulauf zu diesen Schulen gr\»o»ser, die Geb\»uhren geringer und der Zulauf w\»achst weiter. Dass bei dieser Technisierung nat\»urlich das Lehrer-Sch\»ulerverh\»altnis — sowohl menschlich als auch zahlenm\»a»sig — auf der Strecke bleiben kann, sei hier
dahingestellt. Das Streben nach effizienter Ausbildung wird den staatlichen Schulen, wo wie in Deutschland Lehrermangel herrscht, und, wie in den USA die Lehrer schlecht bezahlt sind, Konkurrenz machen. Zu alldem kommt in der Selbstorganisationsgesellschaft der finanzielle Gesichtspunkt: «‘Warum soll ich zeitlebens Steuern zahlen, um ein Schulgeld freies Schulsystem zu unterst\»utzen, obwohl ich keine Kinder habe oder diese nur eine begrenzte Zeit in eine — vielleicht gar nicht so gute — Schule gehen, obwohl ich bei dem «`selbstorganisierten»‘ System mein Geld viel besser in die Ausbildung meiner Kinder investieren k\»onnte?»‘ Dieser unsoziale Aspekt k\»onnte aber durch die oben genannte Unterrichtsweise gemildert oder sogar vermieden werden. Die Selbstorganisationsgesellschaft wird die staatlich finanzierten und kontrollierten Universit\»aten aufgeben. Schon jetzt erfreuen sich bei den staatlichen Stellen solche, vor allem technisch orientierte, Hochschulen besonderer Beliebtheit, die viele Drittmittel einwerben. Obwohl hier ein wesentlicher Teil von anderen staatlichen Organisationen kommt, ist die Tendenz steigend. Stammen diese Mittel aus der Industrie, so wird oft von Auftragsforschung gesprochen, was vor allem in der Vergangenheit zu heftigen Disputen f\»uhrte. F\»ur diese Forschung sprach, dass der Staat dadurch finanziell entlastet wird, Professoren an anwendungsorientierten Problemen arbeiten und Studenten fr\»uhzeitig an Aufgabenstellungen ihres sp\»ateren Berufslebens herangef\»uhrt werden. Das Gegenargument war, oft auch ideologisch gef\»arbt, dass die Universit\»aten von der Industrie — um es krass auszurdr\»ucken — versklavt werden und dass dabei die Grundlagenforschung leidet. Dies muss sicherlich differenzierter gesehen werden. Zum einen hat es von den Anwendungen immer wieder wichtige Anregungen f\»ur die Grundlagenforschung gegeben. Zum anderen aber zeigt die Geschichte, dass ganz wichtige Entdeckungen gerade in der reinen Grundlagenforschung — ohne jeden Blick auf Anwendungen — gemacht werden. Welche Fallen sich hier f\»ur die Selbstorganisationsgesellschaft auftun, und in diese Richtung gehen wohl die USA, zeigt das «`Schwarze Peter»‘-Verhalten der dortigen Firmen. Nach allgemeinem Verst\»andnis werden die Ergebnisse der Grundlagenforschung ver\»offentlicht — warum soll also eine Firma diese finanziell aufwendige Forschung betreiben, wenn deren Resultate doch dann anderen (Konkurrenz-)firmen zugute kommen? So schiebt jede Firma den schwarzen Peter der Grundlagenforschung den anderen oder auch den Universit\»aten zu, so dass diese Art von Forschung nirgendwo betrieben wird. Das hier Gesagte gilt in gewissem Ma»se auch f\»ur Universit\»aten. Und wenn diese Grundlagenforschung treiben, so weisen sie unter dem Druck der \»Offentlichkeit darauf hin, dass sich aus der Grundlagenforschung immer wieder, manchmal auch viel sp\»ater,
wichtige Anwendungen ergaben. Vielleicht sind aber auch fundamentale wissenschaftliche Erkenntnisse ein Kulturgut — ebenso wie Kunst, wozu Natur- wie auch Geisteswissenschaften gleicherma»sen beitragen. Allerdings sollten hier gerade bestimmte Naturwissenschaftler nicht das Augenma»s verlieren, wenn sie vom Staat gro»se Summen f\»ur Forschungen verlangen, wo der Erkentnisgewinn schlie»slich nur wenige interessiert. In der Selbstorganisationsgesellschaft wird diese Problematik vermutlich noch
ausgepr\»agter. Die in der Selbstorganisationsgesellschaft schlie»slich verwirklichte Privatisierung der Universit\»aten wird, so sagen die Bef\»urworter, den Studienbetrieb wesentlich ver\»andern. Nachdem der Student oder die Studentin hohe Studiengeb\»uhren zahlen, entsteht ein hohes Eigeninteresse an einem m\»oglichst kur\-zen und zugleich h\»ochst effizienten Studium. Das letztere f\»uhrt zu einem Erfolgsdruck f\»ur die Lehrkr\»afte, die ja letztlich von den Studiengeb\»uhren leben. Dies alles kann man in den USA genau studieren (im doppelten Sinne), wobei die Licht- und Schattenseiten deutlich werden. Als Lichtseite sei die Effizienz des Unterrichts und die Tatsache, dass
sich eine Universit\»at wie eine gro»se Familie f\»uhlt, erw\»ahnt, als Schattenseite — zumindest f\»ur einen Europ\»aer — die finanziell bedingte Differenzierung. \»Uberhaupt: Das hier umgesetzte Geld entspricht dem ansehnlicher Industrie-Unternehmen ( die \»ubrigens auch wieder als Sponsoren auftreten).
Entstaatlichung uberall
In welchen Bereichen haben wir eine weitere «`Entstaatlichung»‘ zu erwarten? Einen ersten Eindruck vermitteln hierzu die USA. Dem Sport wird immer mehr die staatliche Unterstutzung entzogen, es findet in gewissem Sinne eine Konkurrenz der Sportarten statt, wobei die Zahl der jeweiligen Anhanger — z.B. uber die Fernseh-Einschaltquoten — eine ausschlaggebende Rolle spielt. Bei Sportarten, die im allgemeinen von relativ wenigen Anhangern getragen werden, die aber zum nationalen Prestige beitragen, bedarf es dann wohlhabener Mazene. Dies sind dann — siehe USA — gro?e Firmen, die ihr Sponsorentum uber Werbung in klingende Munze verwandeln. Wahrend es fur den Sport zahlreiche Begeisterte gibt, die auch erhebliche Beitrage zahlen, ist — wofur Berlin nur als ein Beispiel stehen mag — eine restlose Privatisierung der Kunst, wenigstens fur mich, au?erst schwer vorstellbar. Es geht hier nicht nur um den Kunstgenu? der Zuschauer oder Horer, sondern eine Kulturnation muss sich einfach ihre Kunstler ohne staatliche oder wirtschaftliche Bevormundung leisten konnen, wobei ich eine ma»svolle wirtschaftliche R»uckkopplung nicht ausschlie»sen mochte.
Vermutlich wird eine kunftige Selbstorganisationsgesellschaft von der Idee beseelt sein, sich alles leisten zu konnen. Warum also nicht ein Soldnerheer oder gar anzumietende «`Privatarmeen»‘? Der Unterhalt einer Staatsarmee ist teuer, vielleicht kommt man bei einem privatwirtschaftlichen Unternehmen gunstiger davon. Schon heute sehen wir, wie bestimmte Dienstleistungen — etwa Transporte — von der Bundeswehr in private Hande gegeben werden. Auf jeden Fall ist eine allgemeine Wehrpflicht mit dem Selbstorganisationskonzept nicht vertraglich, viel eher noch ein Heer aus Freiwilligen, die sich je nach Einsatz zur Verfugung stellen.
Noch ein hei»ses Eisen. Steuern
Fassen wir noch ein weiteres hei?es Eisen an: Steuern. Diese flie?en in verschiedene Kassen: in die der Gemeinden, Stadte, Lander, des Bundes. Die Steuergesetzgebung ist zu einem unentwirrbaren Dschungel geworden — fast jeder Burger braucht einen Steuerberater. Die Selbstorganisationsgesellschaft wird hier neue Wege suchen mussen. Ein Weg bietet sich uber «`elektronische Direktdemokratie»‘, wobei durch geeignete Rahmenbedingungen («`Kontrollparameter»‘) komplizierte Regelungen ausgeschlossen werden. Die Synergetik bietet Beispiele, wie solche Kontrollparameter aussehen konnen. Ein anderer, noch revolutionarer Weg, ware die Steuereintreibung Privatfirmen zu \»ubertragen. Auf jeden Fall bedarf es in der Selbstorganisationsgesellschaft einer drastischen Vereinfachung des Steuersystems, so dass jeder Einzelne ohne fremde Hilfe und ohne Steuerverwaltung seine Steuer berechnen und zahlen kann.
Im Kontext mit Steuern muss noch ein weiteres Thema angeschnitten werden: das Mazenatentum. Immer wieder sehen wir, dass in der Selbstorganisationsgesellschaft Mazene, sei es als Privatperson, sei es als Firma, nicht nur erwunscht, sondern unabdingbar sind. Die europaische Steuergesetzgebung ist hier — im Gegensatz zur amerikanischen — kontraproduktiv, indem sie bei Spenden fur Kunst und Wissenschaft sehr niedrige Hochstgrenzen fur Freibetrage ansetzt. Allgemein lasst sich sagen, dass in Europa die Vernunft von Staatsfunktionaren hoher als die von erfolgreichen Privatpersonen gesetzt wird.
Die Selbststrukturierung
Im Vorangegangenen entwarf ich das Bild einer Gesellschaft von Individualisten. Aber sowohl vom Standpunkt des Einzelnen wie auch von dem des Systems wissen wir, dass jetzt neue Konflikte zu losen sind. Als Individuum stehen wir standig vor neuen Entscheidungen. Naturlich gibt es hier ausgeklugelte Theorien, wie z.B. die beruhmte Spieltheorie von O. Morgenstern und J. von Neumann. Aber wie mir Morgenstern vor Jahren sagte, glaube er nicht, dass sich eine Hausfrau danach bei ihren Einkaufen richten wurde. Vielmehr tun Menschen oft das, was sie das letzte Mal — mehr oder weniger erfolgreich — unter ahnlichen Bedingungen taten. Ein anderes, noch haufiger angewandtes Prinzip ist zu tun, was die anderen tun. Damit sind wir beim Kollektiv-Verhalten angelangt — Bildung von Gruppen, von Allianzen — oder bei Interessen-Unterschieden, Findung eines Konsensus. Diese Interessengemeinschaften konnen die verschiedensten Formen und Gro?en annehmen, wobei die Mitglieder einer Allianz fest zusammenhalten, die Mitglieder einer anderen hingegen ignorieren oder sogar als Konkurrenten betrachten. Vor allem die beiden amerikanischen Kontinente liefern aufschlussreiche Beispiele. Dabei ist eine Abschottung der Reichen von den Armen nicht zu ubersehen, seien dies schon fast zu Festungen ausgebaute Wohnviertel, die von privaten Sicherheitskraften bewacht werden, oder exklusive Clubs. Auf wirtschaftlichem Gebiet sehen wir das immense Wachstum gro? er internationaler Konzerne, denen, wie es oft scheint, staatliche Kartell\»amter fast ohnmachtig gegenuberstehen, wobei auch deren Regulierungseingriffe in ihren Konsequenzen zuweilen schwer abzuschatzen sind. Was in einem einzelnen Land als bedrohlicher Monopol-besitzender Konzern erscheint, ist auf der Weltbuhne vielleicht nur ein kleiner Mitspieler. Zugleich treten Globalisierungsgegner der verschiedensten Richtungen auf den Plan. Letztendlich kommen wir um die Frage der Ethik nicht herum. Sind verschiedene Ethiken moglich, konnen diese koexistieren, sind sie miteinander kompatibel? Der bedeutende Nationalokonom Friedrich August von Hayek vertrat hier eine evolutionare These: diejenige Ethik bildet sich heraus, die okonomisch erfolgreich ist. So sagte er das Ende der Sowjetunion auch aus dem Grunde voraus, dass deren System das Privateigentum leugnete. Aber im Sinne der Synergetik setzt die Entstehung eines stabilen Ordners — im vorliegenden Falle einer verbindlichen Ethik — konstante Kontrollparameter voraus. Im Hinblick auf die rapide Entwicklung u.a. von Technik und Medizin ist diese Voraussetzung nicht mehr erfullt. Gibt es also ubergeordnete Prinzipien? Helfen hier Gesetze, obwohl diese doch wiederum auf ethischen Prinzipien beruhen? Konnen hier die Medien als Meinungsmacher helfen, obwohl das Internet ungefiltert und (fast) unkontrolliert alle moglichen Meinungen zu verbreiten hilft? Meine Antwort gebe ich am Schluss dieses Beitrags.
Fazit
In der Selbstorganisationsgesellschaft entfallt zunehmend die direkte staatliche Kontrolle. Dies gibt uns das Gefuhl der Freiheit. Jedoch treten — ganz im Sinne der Synergetik — Sachzwange an die Stelle jener direkten Kontrolle. Wir leben — ob wir es wahrhaben wollen oder nicht — in der Illusion der Freiheit. Zugleich kann der Kampf ums Uberleben in ein Streben nach Macht umschlagen. Wahrend aber fruher sich Macht besonders in der Staatenbildung ausdruckte, fuhrt der heutige Macht\-erwerb auf dem Weg uber Gruppenbildung oft uber die Staatsgrenzen hinweg. Zugleich orientiert er sich an gemeinsamen Merkmalen wie Sprache, Religion, Volkszugehorigkeit, usw., was auch zu irrationalem Verhalten fuhrt. Klarer sind oft die Verhaltnisse, wenn es sich um gemeinsame wirtschaftliche Interessen handelt. An die Stelle von Koexistenz tritt oft der Wettbewerb verschiedener Ordner, seien diese Wirtschaftssysteme, Finanzgruppen oder Religionen. Wir erleben im Rahmen der Selbstorganisationsgesellschaft eine Welt, die immer turbulenter wird — eine Struktur lost die andere ab. Politische Ansprechpartner, fur Ordnung sorgende Instanzen drohen dahin zu schwinden. Sollen wir also letztlich eine Weltdiktatur anstreben, die fur Ruhe und Frieden sorgt — allerdings fur den Frieden eines Friedhofs?